Aktuelle Übersicht zur ME/CFS Forschung

Hier finden Sie eine kompakte Übersicht zur Forschung rund um ME/CFS: Internationale Trendwende, aktueller Forschungsstand, Metabolismus, Belastung, Immunologie, Neurologie und mehr (Stand 2020).

1. Übersicht zur Forschung

Internationale Trendwende in der ME/CFS Forschung

Seit einigen Jahren lässt sich eine anhaltende internationale Trendwende in der Auseinandersetzung mit ME/CFS feststellen. Zahlreiche neue Forschungen, Publikationen und Konferenzen zum Thema und wachsender Druck durch Forschende, behandelnde ÄrztInnen und PatientInnenorganisationen führten zu einer vielbeachteten Konsolidierung und Neubewertung der vorliegenden Erkenntnisse zu ME/CFS.

2015 wurde in den USA ein ExpertInnenrat vom Institute of Medicine damit beauftragt, die Evidenzlage von ME/CFS zu untersuchen. Daraus entstand ein 280 Seiten langes Dokument mit dem Titel „Beyond Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome: Redefining an Illness“. Dafür wurden mehr als 9000 Studien analysiert. Der Expertenrat kommt zu dem eindeutigen Schluss, dass ME/CFS eine schwere, chronische, komplexe Multisystemerkrankung ist, der oft eine Belastung des Immunsystems vorausgeht. Zusätzlich zu der Forschungsanalyse beinhaltet dieses Dokument auch einen Leitfaden für die klinische Behandlung von ME/CFS und neue Diagnosekriterien.

Seit der Veröffentlichung dieses einflussreichen Berichts, setzt sich international der Konsens durch, dass es sich bei ME/CFS tatsächlich um eine schwere physische Erkrankung und entgegen bisheriger Annahmen nicht um ein psychisches oder psychosomatisches Syndrom handelt. Eine weitere Kernaussage des Berichts ist, dass die Belastungsintoleranz eines der zentralen Symptome von ME/CFS ist; demnach können entgegen bisheriger Annahmen körperliche Aktivierung oder andere Belastungen eine gravierende Verschlechterung der Symptomatik und des Krankheitsverlaufes nach sich ziehen.

Der umfassende Bericht des Institute of Medicine und die Kritik an der sogenannten PACE-Studie haben zu einem internationalen Umdenken und einer Veränderung der Behandlungsempfehlungen in den USA und in anderen Ländern geführt.

Es folgte ein Anstieg an privaten und öffentlichen Initiativen zur Unterstützung von biomedizinischer Forschung zu ME/CFS, die Gründung von Forschungsinstituten, die Finanzierung von neuen, maßgeblichen Studien mit ersten wegweisenden Resultaten und bedeutenden Änderungen in der Gesundheitspolitik einiger Länder. 

Neue Forschungsschwerpunkte und Zentren an den Universitäten Harvard und Stanford, die international zu den renommiertesten Forschungszentren zählen, sind richtungsweisend für globale Entwicklungen und ziehen hochkarätige WissenschaftlerInnen an, die in internationaler Zusammenarbeit mit anderen Universitäten neue Forschung in Sachen ME/CFS vorantreiben.

Trotzdem sind die Forschungsgelder im Vergleich zu anderen Krankheiten, mit einer ähnlich hohen Anzahl an Betroffenen, sehr gering. AIDS betrifft z.B. ungefähr gleich viele Menschen wie ME/CFS, die Forschungsausgaben sind aber ca.200 mal so hoch.

Aktueller Forschungsstand

Da die genaue Pathogenese bei ME/CFS noch unklar ist, geht es in der Forschung vor allem darum, die Krankheit besser zu verstehen und gleichzeitig nach robusten, diagnostischen Markern zu suchen.

Da ME/CFS eine Multisystemerkrankung ist, erfordert die Forschung eine Zusammenarbeit verschiedener Fachbereiche, um die Krankheit besser zu verstehen. In den letzten Jahren wurden vor allem in den Bereichen Neurologie, Immunologie, Metabolismus- und Mikrobiom-Forschung wichtige neue Erkenntnisse gewonnen. 

Ende 2019 wurde eine gesamte Ausgabe der “Frontiers in Neurology”60 dem Fortschritt in der ME/CFS Forschung gewidmet.

Die folgende Übersicht fasst einige der wichtigsten Erkenntnisse aus der Forschung der letzten Jahre zusammen.

2. Metabolismus

Einige Studien zeigen Anomalien des Energiestoffwechsels in den Zellen

  • Metabolische Signatur: Die Analyse des Metaboloms zeigt signifikant verringerte Metaboliten, was aufeinen hypometabolischen Zustand/verlangsamten Metabolismus hinweist (Naviaux et al., 2016, Nagy-Szakal, Lipkin et al., 2018). Naviax et al. (2016) fanden auch Veränderungen in Bestandteilen von Zellwänden (Sphingolipiden und Cholesterin)
  • Fehler in der zellulären Energieproduktion, u.a. eine Reduktion der Glykolyse, gestörte PDH-Funktion – inadäquate ATP-Produktion und Laktat-Überproduktion. Gesunde Zellen, die in Serum von ME/CFS-PatientInnen eingebracht wurden, zeigten die gleichen metabolischen Anomalien, wie die von ME/CFS-PatientInnen (Fluge, Mella et al., 2016, Armstrong et al., 2015, Davis et al., 2019).
  • Die HHV-6 Reaktivierung bei ME/CFS PatientInnen aktiviert eine proinflammatorische cell danger response, die gegen bestimmte DNA und RNA Virusinfektionen schützt, aber gleichzeitig eine Fragmentierung der Mitochondrien und einen stark beeinträchtigten Energiemetabolismus bewirkt (Schreiner et al., 2020).
  • Abnormität des Energiestoffwechsel und oxidativer Stresswege (McGregor et al., 2015)
  • Gestörter Fettsäurestoffwechsel und signifikant veränderte Metaboliten
    (Germain et al., 2017, 2018, Nagy-Szakal et al. 2017, 2018)
  • Gestörter Metabolismus von Acyllipiden und Steroiden (Germain et al., 2019)

3. Belastung

Studien zeigen ungewöhnliche Reaktionen infolge körperlicher Belastung bei ME/CFS

Verschlechterung der Symptomatik und der Fatigue nach Belastung (PEM – Post-Exertional-Malaise) ist das Leitsymptom von ME/CFS. Diese Verschlechterung tritt oft zeitverzögert auf (8 – 72 h nach der Belastung).

  • Zweiter Belastungstest am Folgetag nach Belastung (Second-day CPET): Stark verringerte Leistungsfähigkeit und reduzierter Sauerstoffverbrauch
    (Snell et al., 2013, Keller et al., 2014, Jones et al., 2012).
    Um Dekonditionierung als Ursache auszuschließen, haben Vermeulen et al. (2014) einen Vergleich mit gesunden Menschen mit eingeschränktem Aktivitätsniveau angestellt. Die Sauerstoffaufnahme in Muskeln von ME/CFS-PatientInnen war hier um mehr als die Hälfte reduziert.
  • Belastung verschlechtert körperliche Leistungsfähigkeit und erhöht Laktat während des Trainings bei PatientInnen mit ME/CFS, während es bei gesunden ProbandInnen abnimmt (Lien et al., 2019)
  • Stark eingeschränkte mentale Leistungsfähigkeit und Schmerzen nach Belastung (Abnormitäten in der MRT zu sehen) (Cook et al., 2017)
  • Reduzierte Blutversorgung im Gehirn und Herz
    (Van Campen CMC et al., 2020, Neary et al., 2008; Peterson et al., 1994)
  • Veränderte Genexpression nach Belastung, bei Genen, die den Metabolismus sowie das Immun- und Nervensystem betreffen (Light et al., 2009)

Ein Spiroergonometrie Belastungstest (CPET) an zwei aufeinanderfolgenden Tagen kann zur objektiven Messung von PEM (Post-Exertional-Malaise), dem Kardinalsymptom von ME/CFS, eingesetzt werden.

Es gilt zu beachten, dass Belastungstests in Studien nur an leicht oder mittelschwer betroffenen PatientInnen durchgeführt werden. Schwerbetroffene können gar nicht belastet werden.

PACE Trial: Diese Studie wurde anfänglich als Beleg für den Erfolg einer abgestuften Bewegungstherapie und kognitiver Verhaltenstherapie (CBT) verkündet. WissenschaftlerInnen, ÄrztInnen und PatientInnen übten heftige Kritik an den verwendeten Methoden. Das amerikanische Center for Disease Prevention hat daraufhin die abgestufte Bewegungstherapie (GET) und CBT wieder aus ihren Behandlungsempfehlungen für ME/CFS entfernt. Ein umfangreiches Cochrane Review zur gleichen Thematik wird im Moment aufgrund der veränderten Evidenzlage, im Auftrag der Cochrane Herausgeber, komplett überarbeitet.

4. Immunologie

Die Suche nach einem viralen oder bakteriellen Krankheitsauslöser ist bis jetzt erfolglos. Allerdings gibt es bei manchen Infektionen eine erhöhte Wahrscheinlichkeit an einem ME/CFS zu erkranken.12 Zahlreiche Studienergebnisse zeigen, dass bei ME/CFS-PatientInnen eine fehlgesteuerte Immunfunktion auftritt.

5. Neurologie

  • Einige Studien zeigen erhöhtes Laktat im Liquor von CFS-PatientInnen. Laktat wird von Zellen bei Sauerstoffmangel produziert. Das impliziert eine schlechte Durchblutung des Gehirns
    (Mathew et al., 2008; 2010; 2012; 2017).
  • Neuroinflammation (Entzündung im Gehirn) ist im PET Scan zu sehen
    (Nakatomi et al., 2014, Mueller et al., 2020). 
  • Gehirnveränderungen in der MRT: In manchen Regionen verringertes Volumen der weißen Substanz, in anderen verringertes Volumen der grauen Substanz. Diese Veränderungen korrelieren mit den Symptomen (Shan et al., 2016). Eine andere Studie zeigte Veränderungen, die von PatientInnen berichtete Symptome, wie Probleme mit dem Gedächtnis oder bei der Verarbeitung visueller Reize, unterstützt (Puri et al., 2012).
    Abnormitäten bei Temperatur und Metaboliten in Hirnregionen (Mueller et al., 2020)
  • Gestörte Funktion von Glucocorticoid-Rezeptoren (de Vega et al., 2017, 2018, 2018)

6. Weitere Bereiche

Eine Vielzahl an Studien hat in weiteren Bereichen/Körpersystemen Auffälligkeiten gefunden. Darunter unter anderem: